„Erzähl mir von früher, Mama.“ Greta setzt sich zu ihrer Mutter auf die Veranda des Farmhauses.
Anna runzelt die Stirn. „Was soll das? Fängst du schon wieder an? Da gibt es nichts zu erzählen.“ Sie kneift die Lippen zusammen und schaut auf das karge, trockene Land, das ihr Heimat geworden ist.
„Ach, Mama, sei doch nicht so. Nun ist Papa tot und ich weiß kaum etwas über eure Vergangenheit. Wie wäre es? Erzähl einfach von einem ganz besonderen Tag in deinem Leben.“ Langsam wendet
Anna den Kopf und schaut die Tochter an. Hinter ihrer Stirn arbeitet es. „Bitte, Mama, es ist mir wichtig.“ Die alte Frau seufzt, steht schwerfällig auf, geht langsam ins Haus, kramt herum.
Als sie zurückkommt, hält sie in der rechten Hand ein kleines Schraubglas. Die Tochter schaut neugierig auf. Ein wenig Sand erkennt sie und etwas Weißes: einen kleinen Knochen? Anna setzt sich und murmelt: „Du willst es so. Ich warne dich, angenehm wird die Geschichte nicht!“ Sie räuspert sich und beginnt stockend zu erzählen.
„Du weißt, ich bin in Windhoek aufgewachsen. Dort lernte ich deinen Vater kennen, als er einige Wochen in der Stadt war. Du erinnerst dich sicher, wie gut er aussah, strahlend, ein Mann wie aus dem Bilderbuch.“ Greta nickt. „Ich war so stolz, als er mich auswählte, gerade mich. Ich war weder hübsch noch tüchtig, nicht schlagfertig, nicht witzig. Eigentlich stand ich immer im Schatten.“ „Aber Mama, das stimmt nicht!“ „Was weißt denn du! Ich blühte auf. Ich wusste, das Leben auf der Farm würde hart sein, aber ich habe mich darauf gefreut, war sicher, alles meistern zu können, Arbeit, Einsamkeit, Trockenheit. Er war ja bei mir.“
Anna schüttelt sanft das Glas, lauscht auf das leise Klicken des Knochens.
„Mein Glück währte nicht lange“, fährt sie trocken fort, „geschlagen hat er mich selten, aber beschimpft, ausgenutzt, erniedrigt. Ich war seine Arbeitssklavin, mehr nicht. Ich wurde immer kleiner. Er brauchte das, aber das erkannte ich erst später. Ich nahm alles hin, kannst du dir das vorstellen?“ Ihr Gesicht wird hart, zornig. „Immer weiter bin ich geschrumpft – und er wuchs. Er wuchs von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, wurde übermächtig, ein böser, gefährlicher Riese, gegen den ich mich nicht wehren konnte.“ Ihr Lachen klingt wie ein Schluchzen.
„Und dann kam er, der besondere Tag, nach dem du gefragt hast, der Tag, als meine Welt sich veränderte.“ Anna stockt, schüttelt energisch den Kopf. „Nein, der Tag, an dem ICH meine Welt veränderte. Als ich aufwachte an diesem Morgen, fühlte ich mich zum ersten Mal seit Monaten leicht und unbeschwert. Ganz deutlich konnte ich mich an meinen Traum erinnern: Der böse Riese war kleiner geworden – vor meinen Augen. Ich konnte auf ihn herabsehen. Er war eingesperrt hinter einer gläsernen Wand, an der seine verletzenden Worte, seine arroganten Gesten abprallten. Da wusste ich, meine Zukunft bestimmte ich allein.“
Sie zögert, betrachtet sinnend ihre unruhigen Hände. „Wir hatten einen Hund, Arko, einen jungen Dobermann. Er war der Augenstern deines Vaters. Ihm schenkte er Zeit, Zuneigung, ihn streichelte er zärtlich, nahm ihn mit, wenn er auf der Farm unterwegs war, für ihn fand er immer freundliche Worte. An diesem Morgen drohte ein Sandsturm, darum hatte er Arko zu Hause gelassen. Ich brauchte nicht nachzudenken,
wusste genau, was ich tun würde.“ Sie blickt Greta in die Augen, redet jetzt laut und ganz deutlich. „Ich holte die Leine, lief los mit dem Hund
bis zu meinem Lieblingsplatz zwischen den Felsen an der Farmgrenze. Dort band ich Arko sorgfältig fest an den alten Kameldornbaum – dabei stellte ich mir den geschrumpften Riesen vor. Ich schaute den Hund nicht mehr an, hätte die Verständnislosigkeit, den Schmerz in seinen Augen nicht ertragen. Ich lief zurück ohne ihn, sein hoffnungsloses Jaulen gellte lange in meinen Ohren.“
Greta starrt ihre Mutter an, fassungslos, aber sie sagt nichts. Anna richtet sich auf. „Der Rest ist schnell erzählt. Wegen des Sturms konnten die Männer erst am nächsten Tag nach dem Hund suchen; er wurde nicht gefunden. Ich hatte deinem Vater gesagt, sicher sei Arko ihm nachgelaufen und habe sich verirrt. Ich weiß nicht, ob er mir glaubte. Fest steht, seit diesem Tag veränderte sich unsere Beziehung. Er spürte
wohl, dass er mich nicht mehr verletzen konnte. Er behandelte mich mit Respekt. Es wuchs keine Liebe zwischen uns, aber ein Zusammenleben war möglich, denn wir begegneten uns auf Augenhöhe. –
Nur einmal noch bin ich zu meinem Lieblingsplatz gegangen. Es war kurz nach deiner Geburt. Dort fand ich im Sand diesen kleinen Knochen.“ Sie hebt das Glas hoch. „Wenn es mal wieder schwierig wurde, holte ich es aus seinem Versteck.“ „Und dann hat es dich an deine Kraft erinnert, nicht wahr, Mama?“ Greta hat Tränen in den Augen. Anna nickt schweigend. „Bitte, Mama, schenkst du mir das Glas?“
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