Bericht der Jury des Kurzgeschichtenwettbewerbs

Waren die anderen drei Themen (Die Themen waren: „Nachbarn“, „In aller Freundschaft“, „Pannen“ und „Angst“) zu wenig griffig? Liegt es daran, dass starke Gefühle eher nach literarischer Verarbeitung drängen? Oder gar an der aktuellen Situation der Deutschsprachigen in Namibia? Jedenfalls behandelten mehr als 50 Prozent, nämlich acht der vierzehn für den Kurzgeschichtenwettbewerb eingereichten Arbeiten das Thema „Angst“.

Dennoch ergab sich eine erstaunliche Bandbreite an inhaltlichen Umsetzungen, die von Alltagsbegebenheiten bis zu Extremerfahrungen, von humorvollen Anekdoten über eher traditionelle Geschichten von Buschfeuer und Regen hin zu düsteren Visionen reichten. Über die Tatsache, dass dabei die Kriterien der Gattung Kurzgeschichte oft zu wenig berücksichtigt wurden, hat die Jury hinweggesehen, solange wenigstens eine Geschichte erzählt wurde und die literarische Verarbeitung gelungen erschien.

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Und Christina singt …

Er legt ihr den Arm um die Taille und meint leichthin: „Siehst du! Es geht auch so – ohne Streit.“ Aus dem Licht der Passage treten sie ins Halbdunkel der Straße. Er öffnet den Wagen mit der Fernbedienung. Plötzlich ist Nacht um sie. „Stromausfall …“, sagt er und stockt. Vor ihnen bewegt sich eine Gestalt. Sein Arm verkrampft sich. Sie tätschelt seine Hand, hakt sich bei ihm unter und zieht ihn mit sich: „… komm, es wird der Parkplatzwächter sein …“ Im Streulicht der Scheinwerfer erkennt er einen Mann – ohne orangefarbene Weste, ohne Nummer, nur mit hingehaltener Hand. Er schiebt eine Münze über rissige Schwielen; die Hand schließt sich und der Mann verschwindet. „Fahr’ du“, sagte er und seine Stimme klingt angespannt. Sie tauschen Plätze, er drückt den CD-Knopf und Christina singt: „Mama, sag’ mir warum es hier so dunkel ist, Mama, sag’ warum du weinst. Ich weiß nicht, warum du traurig bist …“

Die Stadt liegt schwarz unter ihnen. Am Berg kriechen Flammen dunkelrot den Hang empor. Es riecht nach verbranntem Fleisch. Er fragt sich, wie viele Tiere die Wilderer diesmal am Zaun rösten? Und warum kappt niemand Drähte, wenn es brennt? – Sie schaltet um zu den Nachrichten: In der Nähe von Okahandja sterben zwölf Leute – Frontalzusammenstoß. In Ombalantu vergewaltigt ein Jugendlicher ein zweijähriges Kind. In Oshakati verstümmelt ein Mann seine Freundin mit einer Panga. Im Libanon stirbt die Bordtechnikerin eines Hubschraubers. Der Weltsicherheitsrat ringt um den Wortlaut einer Resolution. – Der Nachtwind rüttelt am Auto, Staubschlieren treiben über die Straße und die Stimme im Radio sagt: „Eine Kaltfront nähert sich von Westen“. Er schaltet zurück zur CD und Christina singt: „Warum gehen die Lichter aus? Ich kann kaum noch etwas sehen. Sag’, wieso müssen wir hier stehen? Und warum gehen wir nicht nach Haus …?“

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Grenzgang

In ihrem körpereigenen Endorphin-Rausch war ihr, als gleite sie im silbern schimmernden Licht einer überirdischen Verheißung hinauf in die Weiten eines sternübersäten Nachthimmels. Und so, wie sie meinte der Ewigkeit entgegenzuschweben, schälte sich aus dem Grau des Nichts in ihrem Kopf ein Gewirr von Blitzen, weiß gleißenden Blitzen wie aus Eis, die gefroren am Himmel zu hängen schienen und sie sah eine Hand, die sich aus der Tiefe des Raums zu ihr herabstreckte um von ihr Besitz zu ergreifen.

In verzückter Erwartung schloss sie die Augen und hörte in der Ferne Engelsstimmen, aber Seine Stimme war hart und sprach direkt zu ihr. Sie schreckte aus ihrer Hingabe auf, weil sie sich einbildete, die Anweisung „Gee!“ vernommen zu haben und das raue „G“ dieses Wortes echote durch die Gänge ihres Bewusstseins wie ein fremdes Begriffsfragment im Kräftespiel zwischen widerstimmigen Sprachpolaritäten. Sie gab es auf, den Sinn des Befehls verstehen zu wollen, denn ihre Gedanken waren träge und ohne die Lippen zu bewegen, flüsterte sie: „Führe mich, denn Du bist allmächtig!“

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Die Panne

Per Einschreiben war heute der Brief gekommen. Er hatte die Empfangsbestätigung unterzeichnet, den Brief an sich genommen und war zurück zu seinem Wagen gegangen. Einige Minuten hatte er den Umschlag angeschaut, gedreht und gewendet, dann beschlossen, ihn nicht zu öffnen. Nicht jetzt, nicht hier – vielleicht gar nicht; er wusste ja was darin stand: „Bis … werden Sie aufgefordert, Ihre Farm zu verlassen.“ Eine Weile saß er in seinem brütend heißen Wagen und war wie gelähmt.

Dann kramte er seinen Einkaufszettel hervor und sah nach, was er noch zu besorgen hatte. „Wir brauchen doch gar nichts mehr“, murmelte er in sich hinein. Doch ohne die von seiner Frau bestellten Lebensmittel konnte er nicht nach Hause kommen; essen und trinken würden sie noch müssen.

Auf dem Heimweg, er kannte die Strecke wie im Schlaf, fiel ihm ein Kameldornbaum auf und er fragte sich, warum er ihn nie zuvor in seiner ausladenden Prächtigkeit wahrgenommen hatte. Zwei Kudus kreuzten die Straße, er verlangsamte die Fahrt, sah ihnen nach.

Der Mond schob sich als fahle Lichtquelle über den Berg und die Erinnerung, als er diese Pad* das erste Mal auf seine Farm gefahren war, überfiel ihn.

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Die Prüfung

Die Angst saß in ihrem Nacken. Ihr Herz klopfte rasend. Sie spürte, wie kalte Schauer ihr den Rücken hinunterliefen, wie ihre Hände kalt und feucht wurden, mochte sie sie auch noch so oft an ihrer Jeans abwischen. Eines ihrer Beine hatte sich in einem zappeligen Wippen verselbstständigt und selbst wenn sie sich zwang, es still zu halten, spürte sie das Zittern in ihrem Inneren.

Wenn es doch bloß schon vorbei wäre!

Sie hatte sich heute morgen schon früh auf den Weg gemacht, war seit sieben Uhr hier und eine der ersten in der Warteschlange vor dem Schalter. Ohne lange Wartezeit hatte sie ihre nötigen Formulare abgeben können und war angemessen unfreundlich in den Wartesaal verwiesen worden, in dem sie nun schon eine Stunde saß.

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Desert Express

„Guck dir das an, Lotti! Die haben uns den roten Teppich ausgerollt!“ Else fasste ihre Freundin Charlotte begeistert am Ellbogen. „Ja doch, ich habe es dir ja gleich gesagt, das wird etwas Besonderes, bei dem vielen Geld, das die Fahrkarte gekostet hat.“ Charlotte richtete ihre 158 cm Körpergröße noch etwas mehr auf, stolz, dass diese Reise mit dem Desert Express ihre Idee war. Die beiden Freundinnen, alleinstehend, Jahrgang 1943, waren beide vor kurzem frisch in Rente gegangen und wollten nun gemeinsam die Welt erkunden.

Sie kletterten gerade in den Zug und wurden dort freundlich von der Reiseleiterin begrüßt. Ihr Gepäck war schon in das ihnen zugewiesene Abteil gebracht worden, das sie nun neugierig inspizierten. Drei bequeme Polstersitze, ein Klapptischchen, eine Ablage und eine schmale Spiegeltür gab es da. Während Else es sich an einem Fensterplatz gemütlich gemacht hat, öffnete Charlotte die Spiegeltür. „Oh“, entfuhr es ihr, „alles da, aber ein bisschen eng!“ Sie trat zur Seite und Else schaute, was es da zu sehen gab: Dusche, Waschbecken, Toilette auf engstem Raum, auf aller engstem Raum!

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Die Erleuchtung

Angst! Was genau ist Angst? Ein Gefühl der Bedrohung, des Verlassenseins, der Sinnlosigkeit?

Alexander wusste es nicht so genau und mochte auch mit niemandem darüber sprechen. Er wusste nur, wenn die Angst kam, umhüllte sie ihn wie eine Puppe in einem Kokon.

Alexander war ein sechsjähriger Junge. Er war recht klein und zierlich. Er lebte mit seinem Vater auf einer Farm, nicht weit vom Siedlungsgebiet der Hereros. Sein Vater nannte ihn immer „Alexander den Großen“, doch er fand diesen Namen sehr unpassend. Die Hereros sagten „okanatschi katiti“ zu ihm, was „kleines Kind“ bedeutete. Diesen Namen fand er zutreffend, denn er war klein und er hatte Angst. Die Angst ließ sich auch in Worte fassen: Dunkelheit und Schakale. Beides war für ihn unzertrennbar, wie Pech und Schwefel.

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