Felsgraffiti Heft 24

Liebe Leserinnen und Leser,

Leben wir als Leser nicht ständig in anderen Welten? Begleiten wir nicht Kapitän Nemo an Bord der Nautilus? Gehen wir nicht mit Bilbo Beutlin auf eine unerwartete Reise? Erfahren wir nicht zusammen mit Arthur Dent, dass die Erde gesprengt werden soll?

Vielleicht besuchen wir nicht alle die gleichen anderen Welten, aber immer wieder ziehen uns Geschichten in ihren Bann. Jede Buchseite zieht uns tiefer in die Erzählung hinein, lässt uns unsere Welt eine Weile lang vergessen.

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Neusprachland

von Mareile Wolherr-Weber

Fremd erscheint sie, die Sagen-Melodie.
Töne erwecken die Phantasie.
Im Sprachland unbekannter Natur
Versucht im Dickicht sie zu folgen der Spur.
Im Wörterwald hält sie versteckt
Gestalten – sind noch unentdeckt.
Das Lautwerk das Gehör betört
Ist schwer zu fangen und verstört.
Signale klingen, springen und tanzen,
hinter Pausen sich blitzschnell verschanzen.
Pulsierende Rhythmen und Akzente
Setzen Bewegung in sprechende Momente.
Scheinbar sinnlos fallen die Silben,
erleuchten und schon wieder vergilben.
Stimmen verwirren, hörbar der Schall,
erwarten zurück den sprechenden Ball
Erst langsam zeigt die neue Welt,
was sie verbindet und zusammenhält.
Ton und Bild knüpfen ein Band,
bauen eine Brücke zum Verstand.
Ein Strom von Wörtern in Geistes Haus.
Die Angel der Sinne sortiert daraus.
Lippen sich öffnen, hauchen Musik in Wellen,
verleihen ihnen Körper – in vier Fällen.

Tony Figueira, es sind nicht die Worte, es sind die Taten …

Ein Vorbild ist von uns gegangen.

von Heiko Denker

Wir hatten uns zum Frühstück verabredet, ich war etwas früh, Gabi noch beim Yoga, Tony in der Küche beschäftigt. Der Tisch auf der Veranda war gedeckt, die Kaffeemaschine wartete auf meinen Wunsch; ein ganz normaler Samstagmorgen in Swakopmund – aber nie werde ich die nächste, vielleicht ganz normale, doch für mich besondere Begebenheit vergessen.
Wir setzten uns an den Tisch, Tony legte eine Schnitte Brot auf einen Teller und sagte: „Mache schnell das Frühstück für die Haushaltshilfe fertig.“
Nach der Butter griff Tony zur Gabel, nahm eine große Scheibe Räucherlachs und legte sie auf das Brot. Es war, als ob Tony mit diesem Räucherlachs die Lebenslehre: „König oder kleine Angestellte, Mandela oder Bettler, Mensch ist Mensch und sollte als solcher behandelt werden“ in mein Bewusstsein schob.
Wenn ich heutzutage mit Menschen in Berührung komme, wenn ich Fremden begegne, sei es ein Bettler, der vor mir die Hände aufhält, oder eine Berühmtheit, mit der ich mich unterhalte, fast immer ist es, als ob Tonys Geist hinter mir steht und flüstert: „Sehe einen Menschen, frei von deinen Vorstellungen und frei von deiner projektierten Rangordnung für diese Person“. Damit kommt eine bewusste Entscheidung, wie ich einen Menschen behandle. Das Resultat ist mal so, mal so, aber ich hinterfrage mich, und das ist es, was ein wirkliches Vorbild in uns bewirkt.
Es sind nicht die vielen Facebook und Twitter Botschaften, die zeigen, dass jemand einen prägenden Einfluss hinterlassen hat, sondern die Veränderungen in den Handlungsweisen der Menschen in seinem Umfeld. Tony war ein Mann, der wirkliches Umdenken bewirkt hat, zumindest bei mir und letztendlich kann ich nur das beurteilen.
Tony Figueira, geboren am 30. Dezember 1959 in Huambo, Angola, gestorben am 12. April 2017 in Swakopmund, Namibia. Dazwischen 57 Jahre und ein paar Monate Leben, gefüllt mit Leidenschaft für Fotografie, für Menschen, für Gerechtigkeit, für Autos, für … Sohn, Bruder, Ehemann, Vater, Geschäftsmann, Fotograf … und vor allem Freund und Lehrer!
Ein Leben, das es wert war zu leben. Ein Leben, das in Erinnerung bleiben wird.
Auf Wiedersehen mein Freund, until we meet again …

HIC SUNT LEONES

von Felix Werner

Was ist an alter deutschsprachiger Afrikaliteratur so besonders? Na klar, da gibt es Löwen! Lassen Sie mich etwas weiter ausholen: Um ihrer Unkenntnis in poetischer Weise Ausdruck zu verleihen, haben die Meister früherer Zeiten, wenn sie die Randgebiete einer Landkarte zeichneten, gerne auf drastische Warnungen zurückgegriffen. Seitdem hausen an diesen äußersten Koordinaten grimmige Drachen, tentakelbewehrte Seemonster, Löwen oder anderes Getier, je nach Vorliebe des Geographen bzw. vermuteter Beschaffenheit der terra incognita.

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Trotz der Schwärze der Nacht trug Crispin Sonnenbrille und Hut

von Inki Kubisch

Das war die Vorgabe der Geschichte, die von den 19 Teilnehmern der JAU-Schreibwerkstatt und ihren Lektorinnen, Nadine Gaerdes und Inki Kubisch, gemeinschaftlich erarbeitet wurde, immer unter Berücksichtigung von Struktur und Charakterbogen.
Die anfängliche „Ochs vorm Tor“-Haltung der Jungautoren verlor sich schnell, als Co-Lektorin Nadine mit ihrer Charakterstudie von Crispin einsprang. (Crispin war diesmal ein Mädchen, warum auch nicht? Ich kannte eines, das offiziell „Fritz“ getauft wurde, weil der Vater nach fünf Mädchen endlich einen Jungen haben wollte und es doch wieder ein Mädchen wurde. Aber das nur nebenbei.)
Nun gab es kein Halten mehr. Thema: Gerechtigkeit. Anfang: Fang so spät wie möglich in deiner Geschichte an. Nix mit langweiligen Einleitungen! Hauptteil mit Überraschungen und Problemen: Der Club der Gerechten schlägt zu: Hier wimmelt es von dunklen Heimhöfen, nächtlichen Ausbüchsern, schwarzen Labradoren, verschwundenen Beinprothesen, von Schulbullies und fiesen (also manchmal!) Lehrern und einem voll coolen Heimleiter. Ende: … noch nicht … es kommt noch ein verblüffender Wendepunkt – es war gar nicht der Schulbully! Versöhnlicher Ausklang: Der Zweck heiligt die Mittel – oder doch nicht, oder doch nur ein bisschen?
Check: Wurde das Thema konsequent beibehalten? Haben wir uns nach der Struktur gerichtet? Stimmt der Spannungsbogen? Sind die Charaktere glaubwürdig? „Show, don’t tell“? 5 mal Jip!

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„Junge Leute schreiben keine Gedichte mehr“ – Wer glaubt denn das?!?

von Haiku Heroes

Fünf junge Deutsch-Kurs Studentinnen an der UNAM, nennen sich die Haiku Heroes. Zu Beginn des Semesters lernten sie die unterschiedlichen Literaturgattungen kennen als auch die verschiedenartigen Gedichtformen und Gedichte (z. B. Ballade, Konkrete Poesie, Poetry Slam, Haiku) und deren Interpretation. Beim eigenen Schreiben empfanden sie das Haiku als besonders schwierig und konnten sich nicht so recht mit ihm anfreunden. Doch gerade diese komprimierte Gedichtform verbesserte ihre eigenen Werke und die gemeinsamen Anstrengungen verschweißten sie zu einem Team: deshalb der Name Haiku Heroes. In der Folge lesen Sie nun erste Versuche von Haikus und anderen Gedichten dieser Gruppe.
Ein Haiku ist ein kurzes Gedicht aus dem 17. Jahrhundert aus Japan. Es besteht aus einem Ereignis, welches in 17 oder weniger Silben niedergeschrieben wird. Das Hauptthema ist Natur (Siehe hierzu Der Brockhaus Literatur. Mannheim: Brockhaus 2007, S. 325).

 

NAMIBIA
grünes gras, brauner sand,
wie ruhig ist es am strand
kühles wetter, himmel heller
er rennt für Namibia schneller und schneller
nicht weit vom ziel und er schrie
Namibia hier bin ich, gewinner und free

Cindy Sabbatie

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Foto. Schwarz-Weiß.

von Andreas Vogt

Viertel vor elf ereignet sich ein Stromausfall.
Viktor zieht die Gardine etwas zurück und sieht, dass der gesamte Stadtteil in tiefe Dunkelheit gehüllt ist.
Es ist noch zu früh, schlafen zu gehen. Viktor geht in die Küche, um Streichhölzer und eine Kerze zu suchen.
Nachdem er eine Zeitlang in verschiedenen Schubladen herumgekramt und schließlich einen alten Kerzenstummel und eine Schachtel Streichhölzer gefunden hat, zündet er die Kerze an. Er tröpfelt ein paar Tropfen Wachs auf eine Untertasse und klebt die Kerze darauf fest. Er wartet ein paar Sekunden, bis die Kerze fest aufgesteckt ist. Die Küche wird in ein geheimnisvolles, flackerndes Licht getaucht.

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Die Tierdiebin

von Christiane Otto

Von ihrem Aussichtspunkt hoch über Afrika beobachtete sie den schwerbewaffneten Mann, der vorsichtig durch das Gebüsch kroch. Sie musste zugeben, dass er beeindruckend war. Die Klinge seines Pangas drohte über die Erde zu streifen; der Gewehrlauf wackelte gefährlich hin und her. Sein grauer Pullover kam oft hauchnah an die Widerhaken des Wag-’n-bietjie Baumes. Und doch schaffte er es, lautlos voran zu kriechen.
Manda seufzte. Dieses Mal war – anders. Statt der gewohnten Wut fühlte sie … ja was denn? Melancholie? Nicht ganz. Ihr Blick schweifte durch die Umgebung, zu dem grünen Landrover ein paar Kilometer weiter rechts. Auf ihm saßen vier oder fünf Männer in Khaki-Uniform. Aber sie hatten eine andere Ausstrahlung, eine Aura geprägt von Stolz, Tatendrang und Hoffnung. Vergebene Hoffnung, wie Manda wusste. Sie werden den pirschenden Mann zu spät finden. Und plötzlich wusste Manda, was sie fühlte: Enttäuschung. Sie hatte es gewagt zu hoffen. Denn dieses Mal hatten viele Millionen Menschen eingegriffen, um für eine bessere Welt zu kämpfen. Doch am Ende war es nicht genug. Die Wilderer hatten gewonnen. Nun war die Wut dann doch da. Eine Hand voll Geldgieriger hatte es geschafft, alles zu zerstören. Für einen Augenblick spielte Manda mit dem Gedanken diese Widerlinge einfach verschwinden zu lassen. Aber sie wusste, es hatte keinen Sinn; ein Nächster würde mühelos den Platz füllen. Gier und Neid waren zu tief eingebettet in der Menschheit. Man müsste allen die Babys wegnehmen und von Anfang an anders erziehen. Aber das war eine Aufgabe, der Manda sich nicht gewachsen fühlte. Und, überlegte sie, eigentlich waren die Menschen gut auf Kurs. Empathie und der Wille zu schützen hatten sich im letzten halben Jahrhundert immer stärker in ihnen ausgeprägt. Vorbei waren die Zeiten, in denen der Mensch nur genommen hat. Heutzutage waren die meisten Menschen auch bereit zum Geben – Geld natürlich, aber auch Schutz und Geborgenheit.

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Pulverdampf im Knabenheim

von Ernst-Ludwig Cramer

„… und der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir und schenke Dir seinen Frieden. Amen.“ Der Pastor hob die Arme und kehrte die Handflächen nach vorne.

Wie in einem dieser Wildwestfilme, dachte Carl-Friederich, wenn sich der Bankräuber im Angesicht des Sheriffs ergeben wollte.

Hohl klang die dünne Stimme des Predigers durch den kalten Gemeindesaal.

Nun wird es nicht mehr lange dauern.

Carl-Friederich kannte den Ablauf des Kindergottesdienstes auswendig. Wenn doch nur zum Schluss nicht diese leidige Kollekte eingefordert würde. Er rutschte unruhig auf dem harten Kirchenstuhl hin und her. Seine Blase drückte, er musste dringend pinkeln. Wie alle Heimschüler, die als Internatsschüler das Kleine Knabenheim der DHPS bewohnten, bekam auch er jeden Samstag nur 20 c Taschengeld zugeteilt. Damit gingen dann alle geschlossen zum „Eckpotchi“, dem winzigen Laden eines Portugiesen, unterhalb des Internats. Die 20 c reichten gerade für 10 Wilson Toffees und ein Wassereis. Oder eben für die kleinste Port­ion Kartoffelchips mit Salz und Essig. Da war einfach nicht mehr genug für die Kollekte übrig. Nach dem Kirchgang ging es wieder zurück ins Heim. Ein flaues Gefühl machte sich bei dem Gedanken an den Rückweg in Friedrichs Magengrube breit. Er würde sich mit Martin treffen müssen; wegen des Aligewehres! Mit Martin, dem rauen und drahtigen Burschen, der unter den Jungen als unumstrittener Anführer galt.

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Sternenstaub

von Doro van Vuuren

Die Sterne blickten ihr über die Schulter, als Dr. Anne Heisler aus der langen Reihe von Probengläsern mit Sternenklumpen Probe 145c herausgriff und in ihrer unermüdlichen Art die Probe wie im Schlaf aufbereitete. Sie fühlte sich heute Abend gut, fast federleicht. Das kam auch daher, dass sie heute das erste Mal Blickkontakt mit Dr. Böhmerhannes hatte, einem Lektor der Ur- und Frühgeschichte. Und sie meinte, er hätte ihr zugezwinkert. Es könnte auch nur eine Wimper in seinem Auge gewesen sein, aber das wollte sie nicht glauben. Sie hatte das Gefühl, heute Nacht sei alles möglich …
Schon während der Studienzeit hatte es keinen Test zur Untersuchung von hochmolekularen Verbindungen gegeben, den sie nicht schneller und gewissenhafter durchführen konnte als alle anderen Studenten. Ihre männlichen Kommilitonen nutzten das reichlich aus und baten Anne, bei ihren nächtlichen Tests die ihren gleich mit durchzuführen, während sie die Nächte in Studentenbars durchbrachten. Anne dagegen liebte das Labor.

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