Felsgraffiti Heft 22

Liebe Leserin, lieber Leser,

Eine Wasserkrise kommt eilenden Schrittes auf Windhoek zu, doch wie leben die Meisten? So, als gehe es sie nichts an, Andere sollen es richten, aus der Welt schaffen – denn wir selbst wollen weitermachen, so wie immer.

Es ist ein bisschen wie mit dem Tod, alle wissen, dass er irgendwann anklopfen wird, doch interessiert es uns wirklich? Leben wir so, als könnte er uns jeden Augenblick rufen? Wohl eher so, als ob wir träumen, dass die Medizin ihn bald aus dem Weg geräumt hätte – und wir so weitermachen können, wie immer. „Felsgraffiti Heft 22“ weiterlesen

Hälfte des Ganzen

Mareile Wolherr-Weber

 

Eine Hälfte zeigt das Leben
Miteinander, geordnet in Form
Ein züngelndes Licht ist das deine
Und zeigt vermeintlich die Norm.

Versteckt ist die andere Hälfte.
Unsichtbar schließt sich der Kreis.
Das suchende Auge fantastet.
Er gibt sie dennoch nicht preis.

Erinnerungen an Wecke & Voigts

Das Firmengeschäft Wecke & Voigts an der Kaiserstraße in Windhoek im Jahre 1909. Rechts neben dem Baum im Vordergrund ragt das alte Lager (Wholesale) heraus, rechts neben dem Baum im Mittelgrund das Wohnhaus von Gustav und Frida Voigts. Vor dem Kaiser-Wilhelmsberg die ehemalige Landespolizei (heute Susanne Grau-Heim); rechts davon die Villen der „Schieberallee“ (Bismarckstraße), wo die Windhoeker Prominenz ihren Wohnsitz hatte. Ganz im Hintergrund die „alte Werft“ (Eingeborenensiedlung).

Jeder Deutschsprachige in Namibia hat bereits bei Wecke & Voigts eingekauft oder von dort seine Waren bezogen. Wohl mehr als jedes andere Warenhaus ist dieses Familienunternehmen auch ein Stück der Kulturlandschaft Namibias. Der Lebenslauf des Pioniers und Firmengründers Gustav Voigts (1866-1934) ist anschaulich beschrieben in Hans Grimms „Das Deutsche Südwester Buch“ (Klosterhaus Verlag Lippoldsberg, 1970, S. 51-129). Details zur Firmengeschichte entnehmen wir Festschriften der Firma W&V zu runden Geburtstagen wie zum 75-jährigen Jubiläum (1967) und zum 100-jährigen Jubiläum (1992). Die Firma darf dieses Jahr (2016) bereits auf eine 124-jährige Firmengeschichte zurückblicken. Eine für Namibia beachtliche Zeitspanne. Von diesem Standpunkt aus betrachtet sind die Erinnerungen eines jeden Zeitgenossen an einen Ausschnitt in diesem Zeitablauf gebunden. Es sei soviel gesagt, dass die Mutter des Verfassers dieser Zeilen von 1948 bis 1981 bei der Firma W&V angestellt war. Als sie Ende der 40er Jahre als junges Mädchen nach Windhoek kam, bewohnte sie eines der anmietbaren Außenzimmer, die noch von Frida Voigts (1875-1960), der Frau von Gustav Voigts, jungen Angestellten zur Verfügung gestellt wurden. Das Wohnhaus von Gustav und Frida Voigts befand sich auf dem Firmengelände, nach Westen hin. Es soll dort mitunter sehr unbeschwert und lustig zugegangen sein. Manche lebenslange Freundschaft wurde dort geschlossen und Junggesellen, die nach dem Weltkrieg allesamt das Leben in vollen Zügen genossen, besuchten dort ihre zukünftigen Lebenspartnerinnen. „Erinnerungen an Wecke & Voigts“ weiterlesen

Zu nah

Frank Schwardmann

Monoton brummt der Motor. Tankanzeige, Drehzahl, Kurs, Geschwindigkeit, Höhe – seine Augen gleiten über die Instrumente. Routine, alles wie es sein soll. Aber immer wieder geht der Blick zurück zum Höhenmesser. Er fliegt niedrig – sehr niedrig und sehr langsam. Er weiß, dass das gefährlich und auch nicht unbedingt erlaubt ist, aber er ist auf der Jagd. Da muss man schon mal ein Risiko eingehen. 350 Fuß über dem Busch. Zum Glück gibt es hier keine Hochspannungsleitungen. Es ist jetzt schon der dritte Tag hintereinander, dass er die endlose Buschsavanne abfliegt, in der nur hier und da einige große Akazien stehen. 300 Fuß – naja, gut. Er sucht seine Beute. Neben ihm auf dem Copilotensitz liegt die Hightech-Kamera mit Teleobjektiv. Er hat schon sehr viele Tierbilder geschossen, aber noch nie hat er es aus dem Flieger versucht. Das ist neu für ihn, ein anderer Winkel, eine neue Perspektive. Er hat diesen Auftrag angenommen, weil er von einem der großen Verlage kam. Die Konkurrenz ist groß, das Geschäft hart. Er braucht das spektakuläre Motiv, das ultimative Bild, die dramatische Szene, was ihm hoffentlich die lang ersehnte Anerkennung als Naturfotograph bringen wird. Tankanzeige, Drehzahl, Kurs, Geschwindigkeit, Höhe – nicht zu viel denken, nicht ablenken lassen. Schauen, beobachten – hier irgendwo müssen Tiere sein, die Beute, das Bild.

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Die Entscheidung

Petra Post

Leise öffnete Hanna die Tür. Ein Geruch nach Desinfektionsmitteln, gemischt mit einem leichten Blütenduft schlug ihr entgegen. Gladiolen, die ihre Mutter immer so geliebt hatte. Vor ein paar Tagen hatte sie ihr leuchtend rote mitgebracht. Ob sie die wohl noch wahrnahm?
Als Hanna sich dem Bett näherte, öffnete ihre Mutter die Augen. Dieser flehende Blick, der durch die tief liegenden Wangen noch eindringlicher wirkte. Wie lange würde sie es ertragen, ihm noch standzuhalten? Sie betrachtete das bleiche, gelbliche Gesicht, die knochigen Hände, den zum Skelett abgemagerten Körper, der sich unter der Bettdecke abzeichnete. Wo war die schöne, lebenslustige Frau geblieben? Die Frau, die auf jeder Hochzeit tanzte, die es liebte zu verreisen, neue Länder, fremde Kulturen zu entdecken. Die aus voller Kehle lachte, die gestikulierend, ohne Punkt und Komma redete, den Kopf in die Sonne reckte und sich einen Teufel darum scherte, ob sie Hautkrebs bekam. Das Energiebündel, das Hanna aus ihrer Kindheit und Jugend kannte? Geblieben war nur ihr Wille, das „nur“ war allerdings überflüssig.

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Der alte Mann

Hanjo Lühl

Ich höre, wie die Krankenschwestern mit hallenden Schritten den Flur entlang laufen, wie ich erwache. Ein weiterer Tag umgeben von dem tristen Grau des Krankenzimmers, ein weiterer Tag mit derselben Aussicht, ein weiterer Tag Suppe.
Die junge Krankenschwester, deren Gesicht ich schon so gut kenne, steht an der Tür. Es ist wohl wieder Zeit für die Morgenvisite.

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Aus der Einsamkeit

Miriam Hutterer

Langsam und bedächtig trat er vor das Haus. Unbarmherzig brannte die gleißende Sonne auf sein Haupt. Nur die Krempe seines Hutes warf ein wenig Schatten auf seine blauen Augen. Seine Haut erinnerte an gegerbtes Leder und jede seiner Narben erzählte eine eigene Geschichte. Einige davon waren tragisch, andere sprachen von seiner Abenteuerlust und einige hatte er über die Zeit vergessen. Gebückt machte er ein paar weitere Schritte. Das Alter nagte an ihm, auch er konnte das nicht mehr leugnen. Er blickte sich um, betrachtete sein Land, sein Leben. So ausgedörrt hatte er es selten gesehen.

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Heim(at)

Nadine Gaerdes

 

Autotüren knallen, die Gefühle wallen
und baden in einem Meer der Zerrissenheit.
Arme weit, zum Abschied bereit.
Ein Lachen im Gesicht, die Freunde zu seh’n.
Eine Träne dahinter, die Mama muss geh’n.
Der Zwiespalt zwischen Freude und Leid;
die Zeit ist gekommen, dein Kind dir genommen,
die Selbstständigkeit, dem Kind gegeben,
die das Leben einfacher macht.

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Lubango

H. J. Bollinger

Eine Schweißperle löste sich aus dem verwahrlosten, dreckstarrenden Haar und lief die Wange hinab, zitterte kurz am Kinn bevor sie hinabfiel, um auf der schmutzstarrenden Tarnhose einen kurzlebigen, klebrigen Flecken zu malen. Nur vereinzelt fielen Lichtstrahlen durch die zerrissene Plane über dem Erdloch, erhellten kaum das dichte Dunkel, versetzt mit unsäglichen Gerüchen der menschlichen Ausscheidungen seit mehreren Wochen zu einem zähflüssigen Etwas, dass das Atmen schier unmöglich machte.
Fast zwanzig Paar Augen stierten in die verdichtete, staubige Luft des Erdloches, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach – Gedanken der Hoffnungslosigkeit, irgendwann einmal Rage gegen Denunziation gewesen, Verrat, Verleumdung, Lug der Befehlshaber, des Oberkommandos, des Führers …

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Wer erzählt hier die Geschichte?

Ein Bericht über die Schreibwerkstatt 2016
Felix Werner

Um den Ursprung der diesjährigen Schreibwerkstatt zum Thema „Erzähltheorie“ genauer zu ergründen, ist man gezwungen, seinen aufmerksamen Blick auf ein bestimmtes Geschehnis des Jahres 1603 zu werfen. Es war also einmal, vor langer Zeit – in genau dem Jahr, in dem die berüchtigte irische Piratin Grace O’Malley, die „glatzköpfige Grace“, verstarb, in dem auch der Astronom Johann Bayer erstmals die Uranometria in Augsburg herausgab, in dem des Weiteren der schwedische Feldherr Lennart Torstensson, Graf von Otala, das Licht der Welt erblickte; welcher übrigens bekannt dafür war, viele ruhmreiche Schlachten von einer Trage aus kommandiert zu haben, da er sich aufgrund einer schweren Gichterkrankung häufig außer Stande sah, hierzu sein Pferd zu besteigen, und in dem ferner Miguel de Cervantes, so will es die Legende, seinen Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha zu verfassen begann, welcher, wie so viele Romane zu jener Zeit, im Gefängnis geschrieben werden musste – da begab es sich, dass ein gewisser Philipp Lord Chandos, ein junger und begnadeter Dichter, so wird es jedenfalls kolportiert, einen Brief an den berühmten englischen Wissenschaftler, Staatsmann und Philosophen Sir Francis Bacon, den 1. Viscount St. Albans & 1. Baron Verulam, schrieb. Philipp brachte an Francis folgende, geradezu ekstatische Zeilen zu Papier:

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