Liebe Leserinnen und Leser,
Die 20. Ausgabe der Felsgraffiti soll zu Beginn nochmals den Faden aufnehmen, welcher sich so eindrucksvoll durch die vorhergehende Ausgabe gezogen hat. Erinnern Sie sich vielleicht noch an den Inhalt der einen oder anderen Kurzgeschichte? Falls nicht, so wird ihnen wahrscheinlich dennoch das Thema der 19. Ausgabe geläufig sein. Unter dem zentralen Gesichtspunkt der „Wendepunkte“ durften wir an sehr eindringlichen Gedanken unserer Mitmenschen teilhaben. Schon mancher Beobachter ist zu der Überzeugung gelangt, dass in der Summe eben dieser Wendepunkte der Lebenslauf eines Menschen nachgezeichnet werden kann. Alle Komponenten erhalten schlussendlich nur an einem Scheideweg eine neue Ausrichtung; Zumindest hat der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann das so gesehen. An jedem dieser Wendepunkte, so Luhmann weiter, ist rückblickend etwas geschehen, was so nicht hätte passieren müssen – und logischerweise beginnt dieser Sachverhalt mit der Geburt. Begeben wir uns hierzu auf einen kleinen Exkurs: Wie Sie natürlich sicher alle wissen, werden viele Dinge geboren. Dinge aus Fleisch und Blut erblicken das Licht der Welt sowie auch Dinge in einem übertragenen Sinne. Dies reicht von Menschen und Tieren bis hin zu kleinen und großen Ideen. Wir kennen die Geburten von literarischen Werken, Literaturgattungen, Nationen, Organisationen, Vereinen, Himmelskörpern, Kunstwerken oder Hirngespinsten. Werfen wir hier beispielsweise einen kurzen Blick ins Reich der Literatur, so stoßen wir alsbald auf Friedrich Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“ aus dem Jahre 1872. Denken wir hingegen an die Malerei, so wird uns möglicherweise Botticellis famoses Gemälde „Geburt der Venus“ aus dem Jahre 1485 in den Sinn kommen; Beides waren wahrhaftig keine einfachen Geburten. So trug das Werk Nietzsches zu Anfang noch den Untertitel „aus dem Geiste der Musik“, doch bereits für den Druck der zweiten Auflage im Jahre 1886 erfolgte eine überraschend visionäre Anpassung. Das Buch ging neuerdings unter dem Titel „Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus“ über die Ladentheke. Die Eigentümlichkeit von Sandro Botticellis Meisterwerk liegt hingegen weniger in seiner ursprünglichen Entstehung begründet, als vielmehr in den einsetzenden „Nachwehen“. Die antike Venus, die römische Göttin der Schönheit, der Liebe und des erotischen Verlangens, verzeichnete zusammengenommen nicht weniger als sechs weitere „Geburten“. Erneute Geburtshelfer unserer mythischen Venus waren Eugène Emmanuel Amaury-Duval (1862), Alexandre Cabanel (mehrere Gemälde zwischen 1863–1875), Arnold Böcklin (1872), William Adolphe Bouguereau (1879), Henri Gervex (1907) sowie Odilon Redon (1912). Jede Venus ist dabei ein künstlerisch einzigartiges und autonomes Kunstwerk, auch wenn alle Gemälde einem einzigen Motiv entspringen.