Felsgraffiti Heft 17

Herzlich willkommen zu einer außergewöhnlichen Ausgabe unserer Literaturzeitschrift. Sie weicht von der Ihnen inzwischen schon so gut bekannten Felsgraffiti bedeutend ab, und das aus gutem Grund: 32 Schreibfreudige inner- und außerhalb Namibias haben sich an unserem Literaturwettbewerb zum Thema „Begegnung“ beteiligt. Diese erstmalige Rekordzahl an bisher unveröffentlichten Texten hat die Redaktion kurzerhand veranlasst, den Fokus des vorliegenden Heftes ausschließlich auf das kreative Schreiben zu legen: Von den insgesamt 28 Seiten sind 21 für die Einsendungen reserviert, weitere folgen in der nächsten Ausgabe. Wir danken allen Autoren und Autorinnen dafür, dass sie uns ihre Texte anvertraut haben, und der Jury für ihr Engagement, eine gemeinsame Auswahl zu treffen.
„Keine Musik mehr. Kein Gleichtakt. Sprachlosigkeit. Unsicherheit.“
„Die Zeit legt Deine Haut in Falten das Leben Deine Seele.“
„So lautlos wie sie damals verschwunden war, war sie nun wieder aufgetaucht.“
Die drei Preisträger werden diese Zeilen aus ihren Texten sofort erkennen. Und Sie, werte Felsgraffiti-Leser, könnten jetzt gleich die Seite 6 mit der Überschrift „Literaturwettbewerb 2013“ aufschlagen und diese prämierten Beiträge lesen. Unser Glückwunsch gilt den Gewinnern!

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Morgengrauen

Helmut Sydow

Die Tür schwingt auf, lautlos, wie von einem Lufthauch bewegt, und ein Schatten legt sich auf den Jungen. Er zieht die Beine an und flüstert: „Geh weg! – Bitte!“ Unterdrücktes Lachen dringt an sein Ohr und er spürt Finger, die sich unter der Decke an seinem Körper entlang tasten, sich in den Schlitz seiner Pyjamahose drängen, sich um sein Glied legen und hört eine Stimme über sich flüstern: „Du weißt, dass Gott jeden früh sterben lässt, der seinen Samen auf den Boden fallen lässt?“ Der Junge will die Hand wegschieben, aber die Hand bleibt. „Ich hab’ nichts gemacht. Morgens steht der mir immer“.

„Du lügst! Du warst drauf und dran gegen Gottes Gebot zu verstoßen, du süßer, kleiner Onanist, du!“ Der Junge zieht die Decke über das Gesicht und seine Stimme ist kaum zu hören, als er sagt: „Und was ist mit Gottes Gebot im Buch Mose, wo steht: ‚Der Mann soll nicht beim Knaben liegen wie beim Weibe, denn es ist Gott ein Gräuel‘?“ Der Mann lacht und setzt sich rittlings auf den Jungen. „Wow! Unser singender Koffie-Toffee1 hat seine Bibel aber genau gelesen!“

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Der grosse Blonde

Jochen Sturm

 

Am Fuße der Naukluft da kannt’ ich ’ne Stelle

vom saftigen Schilf umrahmt im Sand eine Quelle.

Dort sah ich ihn, er hat nicht getrunken – er hat gesoffen

Ausgezehrt von Sonne und Sand – so hab ich ihn getroffen.

Nur langsam kehrte Farbe und Leben zurück.

Er starrte ins Leere, dem Heute entrückt.

Dann sah er mich – er konnt’ nicht verstehen

zwischen Dünen und Schilf einen Menschen zu sehen.

Mit großen Augen sah er mich an.

Ein großer, blonder, schöner Mann.

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Neues Leben

Martina Schwardmann

„Die Quelle für neues Leben ist oft eine neue Begegnung.“ Dieser Satz kommt mir in den Sinn, als ich auf das Menschlein in meinen Armen blicke. Ein Junge, 52 Zentimeter, so leicht wie eine Feder mit gerade mal 3600 Gramm. Ich schaue in das Gesicht meiner Tochter und sehe ihre Erschöpfung nach der hinter ihr liegenden Anstrengung. Sehe darin aber auch das glückliche Lächeln einer frisch gebackenen Mutter. Nun bin ich Großmutter und überlege, wo dieser Spruch herkommt. Eine dieser alten Weisheiten, die sich plötzlich für mich mit Bedeutung gefüllt hat.

Sie trifft zu – diese Geschichte erzählt davon.

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Späte Begegnungen

Karoline Schünemann

 

Du warst da, doch sind wir einander selten begegnet.

Ich blicke auf meine Hände

und sehe, wie Daumen und Zeigefinger deiner Hand sich umkreisen.

Ich höre eine Tür knallen

und spüre deine Verärgerung.

Ich sitze im Bett

und genieße die Schokolade, aus deinem Nachttisch.

Ich bin glücklich in namibischer Abgeschiedenheit

und doch treiben mich deine Zweifel um.

Ich liebe meine Kinder

und fühle deine Liebe wachsen mit jedem Tag, den ich älter wurde.

Nun bist du nicht mehr da,

und fern ab unserer gemeinsamen Heimat

begegne ich dir immer öfter.

Die reisende Familie aus Argentinien

Heinz Remmert

Er traute seinen Augen nicht: Was er da sah, stammte aus einer anderen Zeit. Ein kastenförmiges Gefährt, einer Kutsche ähnelnd, aber ohne Pferd, Esel oder sonstigem Zugtier. Es war wirklich ein Automobil, das ganz langsam im Halbrund bis an die Zapfsäule fuhr. Alle Augen blickten gebannt auf die Szene, die der schwarzen Tankwarte sowie die aller Reisenden, die sich hier vor oder nach ihrer Fahrt ins Sossusvlei trafen, um das an so einer Tankstelle Übliche am Rande der Namibwüste vor oder nach einer langen, staubigen und sonnenreichen Fahrt zu erledigen.

Ein königsblauer Kasten mit großen Glasfenstern stand vor der Zapfsäule. Das Blau war über und über mit Aufklebern bedeckt. Über den Fenstern kurz unter dem Dach standen ringsherum an allen Seiten die Worte: „Family on a trip around the world.“ Und tatsächlich, eine Hintertür öffnete sich gegen die Fahrtrichtung wie bei einer Kutsche, und heraus stiegen drei Kinder. Der Älteste war vielleicht zehn, elf Jahre alt. Auch der Vater war vorn ausgestiegen und schritt forsch auf einen Tankwart zu. Er begrüßte ihn mit lauter, wohlklingender Stimme, so als ob er auf einen alten Freund traf. Dunkles, welliges, recht langes Haar über einem braun gebrannten, schönen Gesicht mit einer scharfen Nase und energischem Kinn gaben ihm ein aristokratisches Aussehen.

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Begegnung mit dem Sterben

Frauke Rechholtz

Sie bat um Sterbehilfe.

Mit klopfendem Herzen betrat die Helferin das fremde Haus, nahm die wenigen einfachen Möbel wahr, den sauberen Novilonboden, auf dem die Sonnenstrahlen das wilde Muster der Gardinen tanzen ließen. An der Schwelle war er abgetreten und stumpf.

Die Schwiegertochter führte sie an das Bett der sterbenden Frau. Da lag sie, nur das schmerzdurchtränkte Stöhnen gab dem dürren Körper eine Regung, die schwarzgefärbten Haarsträhnen klebten an den gelblichen Schläfen. Nein, ihren Wunsch nach Erlösung durfte die Helferin ihr nicht erfüllen, aber aushalten wollte sie die Qual, für sie da sein und diese Strecke ihres Lebensweges mit ihr gehen – mehr hatte sie nicht zu bieten. Die leblosen Augen der kranken Frau verirrten sich in dem kleinen Raum, ihr Blick konnte nichts halten, doch sie muss gespürt haben, dass jemand Fremdes anwesend war.

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Freundin

Gabi Moldzio

Der namibische Winter macht sich vor allem in den Abendstunden bemerkbar. Ich sitze unter meiner Leselampe am Kamin. Versuche zu lesen, was mir nicht recht gelingt. Die Gedanken um meine Ehe, der ich entfliehen will – muss, drängen sich zwischen jedes gelesene Wort, überlagern jeden Satz. Ich wollte diese eine Woche des Alleinseins genießen, zu Verstande kommen. Aber es geht nicht. Keine Ahnung – es herrscht doch Ruhe im Haus, die Kinder sind mit ihrem Vater unterwegs!

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich ein großes Insekt auf meine Schulter setzt. Ich hebe die Hand, um es zu verscheuchen, und halte inne – das Tier sitzt völlig ruhig da, nur die Fühler bewegen sich sachte, nichts scheint sie irritieren zu können. Jetzt sehe ich es: eine Gottesanbeterin, groß ist sie, von geradezu strahlendem Hellgrün. Sie nimmt mein Angebot an, sich auf meine Hand zu setzen. Ich möchte diese Naturschönheit genauer betrachten. Sie ist elegant in ihrer schlanken Größe, in dieser unbeschreiblichen, frühlingshaften Farbe.

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Meine Begegnung mit Bamm

Doris Meyer

Heute dürfen wir endlich in die Sonne, Bamm und ich. Ist das ein herrliches Gefühl! Die Wärme auf meiner Haut lässt meinen Bauch kribbeln. Im Sonnenlicht tanzen die Staubkörner. Es duftet nach Jasmin, die ersten Sonnenblumen strecken ihre Köpfe der Sonne entgegen, die Vögel zwitschern und ich höre Hundegebell.

Ich tanz auf dem Rasen, meine Arme fühlen sich ganz leicht an. Auch Bamm ist begeistert, er reckt und streckt sich, macht einen Purzelbaum vor Freude, schüttelt sich lachend und kitzelt mich mit einem Grashalm im Gesicht.

Es ist ja nicht so, dass ich die Sonne nicht kenne, ich habe sie nur schon lange nicht mehr gesehen.

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… Mit sich

Ursula Lüsse

Der Betrieb forderte seinen Einsatz ohne Unterlass. Die 400 Kühe mussten gemolken werden, zweimal täglich, an jedem Tag im ganzen Jahr. Und selbst wenn die Arbeit in Schichten verteilt war, so war doch er derjenige, bei dem die Fäden zusammenliefen.

Zumindest war es jetzt nur noch er. Denn bis vor dem Unfall waren sie es beide gewesen, zusammen, eine untrennbare Einheit und einer die Hand des anderen.

Auf dem Weg nach Windhoek war ihr ein Kudu in den Wagen gesprungen und sie hatte die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Er war zur Unfallstelle gefahren, hatte bei ihr gesessen, solange bis die Polizei kam. Die Bilder dieser letzten kostbaren Zeit mit und bei ihr kamen und gingen, waren Teil ihrer Hinterlassenschaft. An die nächsten Stunden und Tage konnte er sich nicht mehr erinnern. Ein gnädiger Nebel der Ohnmacht hatte sich über seine Sinne gehängt. Er funktionierte irgendwie und automatisch, roboterhaft, tätigte Anrufe und organisierte die Bürokratie, die mit Unfall und Tod einhergeht. Das Haus war voll und alle jene Menschen, die in ihrer eigenen Erschütterung seine Nähe suchten, um der Fassungslosigkeit ein Gesicht zu geben, waren wichtig und gut, doch sehnte er sich nach Ruhe und Stille, weil er glaubte, er könne dann eher begreifen, was geschehen war.

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