Felsgraffiti Heft 16

Liebe Leserinnen und Leser,

Sie halten die 16. Ausgabe der zweimal im Jahr erscheinenden Literaturzeitschrift für Namibia in Ihren Händen. Sechzehnmal ist die Felsgraffiti termingerecht erschienen, gefüllt mit einer Vielzahl von Texten, darunter kreativen Schöpfungen, Kommentaren, Betrachtungen, die den Literaturfreund interessieren. Die vorliegende Ausgabe ist vier Seiten umfangreicher als die bisherigen Hefte, so konnten die vielen Einsendungen berücksichtigt werden. Der Verkaufspreis bleibt bei N$40,00.

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Was lesen Sie denn so?

Almute Möller

Im vierten Teil einer Umfrage unter lesebegeisterten Personen in Namibia (siehe auch FG 13, 14 und 15) habe ich mich an drei Mitglieder unserer Felsgrafitti-Redaktion gewandt. Auch sie mussten sich auf die gewohnten vier Fragen einstellen:

1. Welches Buch gehört zu Ihren absoluten Lieblingsbüchern (eines von denen für die einsame Insel …). Schildern Sie kurz die Handlung/den Inhalt, geben Sie Gründe für Ihre Wahl.
Die Antworten der Beteiligten sind mit dem Kürzel IB (Inselbuch) versehen.

2) Gibt für Sie einen Lieblingssatz oder bedeutsames Zitat aus diesem oder einem anderen Buch? (Kürzel ist LZ)

3) Welches sind die Top-Drei-Bücher die ebenfalls auf Ihrem „Favoriten-Regal“ stehen? (LB steht für Lieblingsbücher)

4) Was steht auf Ihrer BWL (BücherWunschListe)? Bitte nur drei Titel!

In der nächsten Ausgabe dürfen Sie auf die Antworten weiterer Redaktionsmitglieder gespannt sein.

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Begegnungen

Dieter Esslinger

Seit Urzeiten kreist der Planet auf seiner Bahn. Er dreht sich dabei um sich selbst und gewährleistet so die Entstehung von Leben, die Entwicklung von Organismen sowie die Lebensstadien Befruchten, Keimen, Wachsen, Reifen und Vergehen, immer angewiesen auf das Vorkommen von Nahrungsquellen, auf den Ausgleich von Jagen und Gejagtwerden, von Leben und Tod. Die Oberfläche steht unter Wasser oder ist bedeckt von Wäldern, Steppen und kultivierten Flächen, von Sand- und Eiswüsten. Sonneneinstrahlung und Dunkelheit lösen einander im regelmäßigen Wechsel ab. Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere und Menschen erleben ihren artgerechten Lebensrhythmus, unterbrochen von Einzelkonflikten und Naturkatastrophen. Die weiträumige Umgebung ist lebensfeindlich, und nur die Atmosphäre schützt vor Strahlungen und extremen Temperaturen. Ein Ziel des Kreisens ist nicht vorgegeben und bestimmt nicht das Verhalten des Planeten und seiner Bewohner. Niemand kann den Kurs beeinflussen. Niemand kann aussteigen. Die treibende Kraft ist die Sonnenenergie. Das Weltenschiff fliegt dahin, während die Menschheit sich um das private und kollektive Überleben kümmert und die Menschen ihren Lieblingstätigkeiten nachgehen. Jedes Lebewesen weiß unbewusst um das Ende seiner Existenz.

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Laiki

Helmut Sydow

Wenn man darauf wartet, dass der Blitz einschlägt, sollte man nicht unter einem Blitzableiter stehen.“ Die Stimme des Mannes ist kaum mehr als ein Murmeln, aber die Frau hat ihn verstanden und lacht. Er küsst sie im Nacken und sie erwidert seinen Druck mit ihrem Körper. Aus Richtung der Treppe ist das sachte Tappen von Hundepfoten zu hören und der Kopf eines Huskies schiebt sich durch die Tür. Der Hund lässt den Blick durch das Zimmer wandern, wittert, tritt über die Schwelle und hockt sich auf der Seite der Frau vor das Bett. Dort bleibt er sitzen und starrt sie aus blassen Augen an. Als sie leise stöhnt, legt er den Kopf schief, hebt die Pfote, kratzt zweimal an der Matratze, und dann, als sie weiterhin die Augen geschlossen hält, legt er den Kopf in den Nacken, formt ein „O“ mit seinen Lefzen und jault aus voller Kehle „Jahoooooo“. Die Frau schreckt auf, ruft etwas, befreit sich aus den Armen des Mannes und zieht die Decke mit einem Ruck über den Kopf. Der Mann unterdrückt ein Lachen und hebt den Zeigefinger. „Laiki, nein!“ Der Hund schnauft, leckt sich die Schnauze und legt sich hin. „Du kannst wieder rauskommen“, sagt der Mann und die Frau blickt unter der Decke hervor. „Es ist kein Wolf. Nur der Hund vom Nachbarn. Er holt mich zum Spazierengehen ab.“

Die Frau zieht sich die Decke um den Oberkörper, beugt sich zu dem Hund hinunter und hält ihm die Hand hin. „Sorry, dass ich hysterisch war. OK.?“ Der Hund schnuppert, fährt ihr mit der Zunge über den Handrücken, legt sich auf die Seite und schließt die Augen. Die Frau dreht sich dem Mann zu und streicht ihm über das Haar. „Nimm’s mir nicht übel, aber mir ist vor Schreck die Lust vergangen. Gibt’s hier irgendwo Kaffee?“

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Eine schicksalhafte Begegnung

Ursula Dahlet

Womit habe ich das verdient? Warum ist nichts mehr so wie zuvor? Werde ich alt und damit empfindlich? So wie Tante Roswitha immer zu sagen pflegte?‘ Mit diesen Gedanken trat er aus dem Farmhaus ins Freie, überquerte den Hof Richtung Autounterstand und setzte sich in seinen Bakkie. Wenigstens das Auto blieb dasselbe. Es roch wie immer und es sprang an wie immer. ‚Ja, wenn man das Seine pflegt, dann ist Verlass darauf’, dachte er und schluckte die erste Blutdruckpille des Tages.

Den Weg von der Farm bis nach Windhoek kannte er gut. Auch die kurvenreiche Strecke bis zur neuen Bleibe seiner Tochter Iris in ‚Kleine Kuppe‘ war ihm inzwischen geläufiger, aber die Beklemmung, die ihn beim Erreichen des Vororts überfiel, nicht. Wieder und wieder kreisten seine Gedanken um sie. Bisher hatte sie alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. Sein Stolz kannte keine Grenzen, als sie mit summa cum laude abgeschlossen hatte. Er lächelte vor sich hin. Den Beruf, die relativ früh geschlossene Ehe und das kurz darauf geborene Söhnchen – sein erstes Enkelkind –, alles hatte sie unter einen Hut gebracht. Seine Tochter eben!

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Ungewollte Einblicke

Petra Post

Ruckartig setzte sich Hanna im Bett auf. Irgendwas hatte sie geweckt. Erik war es nicht, denn der schlummerte friedlich neben ihr. Schnarchte sogar leise vor sich hin. Vielleicht träumte er von den Erlebnissen des vergangenen Tages, von ihrer Fahrt vom Orta-See zum Lago Maggiore, dem kühlen Weißwein, den sie oberhalb des Sees getrunken und dabei die herrliche südländische Landschaft bewundert hatten.

Da hörte sie es wieder. Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem erstickten Schrei. Ein Grunzen, ein leises Wimmern, dann war es still. Sie spitzte die Ohren, aber es war nichts mehr zu hören. Hatte sie geträumt? Nein, bestimmt nicht. Die Geräusche waren von nebenan gekommen oder vielleicht auch von der anderen Seite des Flurs. Da, Dielen knarrten, jemand ging schwerfällig an ihrer Tür vorbei, Wasserrauschen, eine quietschende Tür. Stille.

Es dauert lange, bis Hanna wieder einschlief.

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Blut ist dicker als Wasser

Ingrid Kubisch

Wie der Propeller eines Flugzeugs wirbelte der Dolch durch die Luft, bevor er sich tief in die 200 Jahre alte solide Eichenplatte des Tisches bohrte. Und dann kam noch ein Dolch geflogen und noch einer und noch einer. Seine gesamte Sammlung setzte Martin so auf den Tisch, dass die Dolche ein perfektes O formten. O für Otto. Befriedigung verdrängte für kurze Zeit Martins Bitterkeit. Bei horizontaler Tischlage zielgenau zu treffen, das machte ihm keiner nach. Vielleicht sollte er Messerwerfer im Zirkus werden? Messerwerfer statt Farmer. Ja mooi. Denn die Farm hatte ja nun Otto geerbt. Zack! Den letzten Dolch in die Mitte. Herzstich.

Otto hat die Farm bekommen, obwohl er nie auch nur einen Finger dafür krumm gemacht hat. Otto, der Zweitsohn, der Oma und ihn allein gelassen und sich auf und davon gemacht hatte, als der Tod einzog. Martin hatte sein Studium aufgegeben, als sein Adoptivvater starb, sich in die Arbeit gestürzt und die Farm in zehn Jahren zu einer der besten Jagdfarmen Namibias ausgebaut. Immer unterstützt von Oma, die ihm trotz ihrer Trauer um die Söhne – der eine tot, der andere verschwunden – mit Humor und Heiterkeit Selbstvertrauen vermittelte; Oma, die nie mit einem Wort oder einer Geste angedeutet hatte, dass er nur ein Adoptivkind war; Oma, die von der Zukunft der Farm sprach, als ob es auch seine Zukunft wäre …

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Der Einbruch

Anne Gschwender

Hätte ich doch besser aufgepasst!

Jetzt sitze ich fest, eingeklemmt, und es stinkt fürchterlich. Mein Herz klopft, ich fühle mich taub, die Beine zittern und die Seiten tun weh. Wär ich doch nicht so schwer.

Langsam kommt mir, dass ich in eine Sickergrube eingebrochen bin. Stück für Stück begreife ich mein Dilemma. Wie komme ich hier nur wieder raus? Kann mich kaum drehen, sehe nur Felswände und ein wenig vom Himmel. Die Sonne brennt vom Zenit.

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Jäger der Wahrheit

Silke Kretzschmar

Martin hetzte durch die engen Straßen und Gassen Kidals. Die vollbepackten Marktstände mit Gewürzen, Töpferwaren, Schmuck, Schuhen und anderen Souvenirs nahm er nur verzerrt wahr. Er schlängelte sich durch das Meer von flatternden Umhängen und Kopftüchern. Prägte er sich sonst Gesichter ein, um sie später von Freund und Feind unterscheiden zu können, so hatte er nun keine Zeit dafür. Manchmal kam eine Situation im Leben, wo Freund und Feind das Gleiche waren.

Martin fiel schon lange nicht mehr als Tourist auf. Nach fast zwei Jahren in Nordafrika war seine Haut dunkel und von der Sonne gegerbt, er trug „Abajehs“ und sprach mehrere afrikanische Sprachen. Er hatte sogar einen malischen Ausweis. Zwar war der nicht echt, aber das fiel nur richtigen Profis auf, also nur den Leuten, von denen er ihn sich besorgt hatte.

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Innenministerium

Heinz Remmert

Da stand sie – oder besser, sie lief etwas steif geschäftig in der kleinen Kabine hin und her – von ihr würde es maßgeblich abhängen, ob er den Reisepass rechtzeitig bekommen würde oder nicht.

Bei der einzigen Luftlinie Namibias war es erstaunlich schnell gegangen, schon hatte er ein Flugticket: Windhoek – Frankfurt, Frankfurt – Windhoek. Deutschland. Als er das letzte Mal „drüben“ war, stand die Berliner Mauer noch. Damals waren sie als Familie nach Deutschland geflogen. Zusammen mit Gisela, seiner Frau, und Renate, der einzigen Tochter, hatten sie eine Reise unternommen.

Nun war er allein. Gisela war vor ein paar Jahren gestorben und Renate in Hamburg verheiratet. Sie und vor allem den Enkel wollte er diesmal besuchen. Er musste seinen Enkel kennenlernen. Lange hatte er gewartet – vielleicht zu lange. Jesco war nun bald vier Jahre alt.

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