Herman Salomon sieht zu, wie die Regentropfen den Sand in der Schubkarre essen. Oder isst der Sand die Regentropfen? Die ersten Tropfen glitzern noch einige Sekunden lang wie Glassteine auf der Sandoberfläche, bevor sie zu dunklen Flecken versickern. Aus trockenem Sand wird feuchter und jetzt verwandeln sich die Tropfen gleich mit dem Aufprall in Flecken, wachsen ineinander, so dass Herman nicht mehr erkennen kann, wo welcher Tropfen zum Fleck wird. Dafür landet jetzt jeder Tropfen mit einem Klatschgeräusch und hinterlässt Kurzzeitkrater. Herman steckt seinen linken Zeigefinger in den nassen Sandhaufen, wackelt ihn hin und her. Komisch. Nasser Sand ist wabbelig, aber er ist trotzdem hart. Soll er noch versuchen, den Sand aus der Schubkarre zu kippen? Herman zieht den Finger aus dem Sand und legt die Hände an die Schubkarrengriffe.
„Heeeeeerrrrrmaaaaan! Komm rein! Du wirst ja ganz nass!“
„Ja, Missies, ich komme!“
Herman lässt die glitschigen Griffe der Schubkarre aus den Händen gleiten. Richtige Lust hat er nicht, zu Veronica Schell ins Farmhaus zu gehen und das Spielchen zu spielen, dass er seit zehn Jahren mit ihr spielt. Aber ihr Whisky ist gut, das muss man ihr lassen.
„Ach nee Mann, Herman, du machst mir ja alles nass. Kipp den Hut draußen aus“, sagt Veronica Schell, als er im Haus steht und sich an den Hut greift. Gehorsam legt Herman Salomon die Handflächen rechts und links unter die Krempe seines Hutes und balanciert ihn in Richtung Türöffnung. Mit ausgestreckten Armen kippt er den Hut über der Türschwelle nach vorne, lässt Regenwasser und Schweiß aus der Hutkrempenrinne auf die Flachklippen vor dem Hauseingang platschen.
„So ist gut. Häng den Hut an den Haken.“
Herman Salomon tut, was er seit zehn Jahren tut, wenn er das Farmhaus betritt, er hängt seinen Hut an den Garderobenhaken neben der Eingangstür, grinst, nickt dem Hut zu, wendet sich an Veronica Schell und sagt:
„So ist gut, Missies.“
„Nix ist gut, Herman, nix ist gut. Das weißt du ganz genau“, erwidert Veronica und schiebt ihn auf das speckige Kuduledersofa im Wohnzimmer. Herman spürt die Wärme am Hintern, als das Kuduleder seine nasse Hose ansaugt.
„Aber Regen ist doch gut“, sagt er.
„Stell dich nicht dumm, du weißt, wo von ich rede.“
Herman Salomon nickt pflichtbewusst und wartet, dass Veronica Schell das Getränkekabinett ansteuert, nach der J&B-Flasche greift und die zwei Whiskygläser füllt, die schon auf dem Wohnzimmertisch warten.
Veronica Schell nimmt ihr Glas und tritt vor das gerahmte Foto ihres verstorbenen Ehemannes über dem Getränkekabinett. Herbert Schell kniet neben einem Kudubullen, die rechte Hand hält das Gewehr, die linke drückt das kapitale Gehörn in die Kamera. Veronica hebt ihr Glas auf die Höhe seines stolzen Lächelns, zieht die rechte Augenbraue hoch und prostet ihm zu.
„Zum Wohl, Herbert, du totes Ekel!“
Auch an dieser Stelle hat Herman Salomon in den letzten zehn Jahren noch nie seinen Einsatz verpasst. Er nimmt einen Schluck, genießt das flüssige Feuer im Hals. Er will gerade die Augen schließen, seufzen, vom Sofa rutschen, sich aufrichten und sagen:
„Missies, ich glaube, ich gehe jetzt besser. Die Arbeit ruft. Danke für den Whisky.“
Aber was reibt heute in seinem Hals, stört den weichen Whiskyfluss? Herman muss husten, fühlt ein Sandkorn über die Zunge scheuern und sagt:
„Missies, lass die Toten!“
„Wie bitte?“, zischt Veronica, „du hast doch keine Ahnung.“
Sie nimmt einen großen Schluck Whisky und spuckt Herbert ins Fotogesicht. Der sagt nichts, wie immer. Wie im Leben, so im Tode. Kein Wort zu viel, viele zu wenig. Herman springt auf und wischt Herbert die braunen Alkoholtränen ab. Dann dreht er sich um und tut, was er seit zehn Jahren tun will: Er öffnet die Arme. Nur Sekunden muss er auf die sehnige Wärme von Veronicas Körper an seiner Brust warten. Herman streicht mit dem linken Zeigefinger über Veronicas Wange. Komisch. Die Haut von alten Frauen gibt nach, aber sie ist trotzdem hart. Soll er versuchen, sie zu küssen?
„Herman! Es war doch ein Jagdunglück, oder? Und auf dem Weg ins Krankenhaus hätte es ihn auf dieser Klippenpad doch zu Tode geschüttelt, oder? Ist doch besser, dass ich ihn ins Bett gelegt habe zum Sterben, oder? Er hätte ja auch mal sagen können, was er will, oder? Du warst doch dabei, Herman, du hast doch auch nichts gesagt.“
„Ist gut, Veronica, ist gut.“ Herman streicht Veronica durch das graue Stacheldrahthaar, lässt ihre schuldbewusste Trauer an sich kleben wie den feuchten Sand an seinen Schuhsohlen.
„Mister Herbert schläft gut unter dem Sand. Und wenn der Regen aufgehört hat, decke ich ihn noch einmal zu. Da ist noch Sand in der Schubkarre.“